Punkte
Kann man eine Geschichte nur mit Punkten erzählen? Ja, man kann! Mit dem universellen runden Bildsymbol lassen sich sogar komplexe Zusammenhänge von Flucht und Migration darstellen. Diese Parabel bringt Politik auf den Punkt – wortwörtlich. Der Tipp von Ina Nefzer.
Wer sich hier vorstellt und seine Leser direkt anspricht, ist tatsächlich ein Punkt: klein, rund, schwarz. Er bringt seine Freunde mit, ebenfalls Punkte. Sie sehen alle gleich aus und sind sehr viele. Vom Punktevolk zur Punktewelt: „Unser Leben ist schön: Wir haben Häuser, wir haben Spass und was zu essen“. Damit man gleich sieht, was gemeint ist, fügen sich die einzelne Punkte zu Silhouetten: einer Skyline, einem Hamburger. Wie von selbst fängt man an, die Zeichen zu entschlüsseln und sich einen Reim auf das wortlose Geschehen zu machen.
Doch hoppla: da tritt links oben plötzlich ein neuer Punkt auf. Der sieht aber mager aus! Ihn füllt kein sattes Schwarz, er besteht nur aus Linie. Wie zu erwarten, sind da auch viele. Aber die sind unzufrieden, haben kein schönes Leben, kein Essen, keinen Spass, keine Häuser! Und fragen: „Dürfen wir auf eure Seite?“
Da müssen die Satten erstmal nachdenken, machen dann aber Platz und lassen ein paar rein. Plötzlich drängeln alle von links nach rechts, bis man sich dort kaum mehr bewegen kann. Da setzt eine Gegenbewegung ein nach „drüben“. Man erkennt den Kontur einer Baustelle: „Zusammen schaffen wir so viele Dinge!“ Brot, Fahrrad, Eis, Waschmaschine. Und am Schluss: links denselben Punkt wie auf der rechten Seite: halb weiss, halb schwarz.
Flucht-Punkt
Diese Parabel bringt Politik auf den Punkt – wortwörtlich. Reduziert auf den einfachsten Nenner, wird das komplexe, schwer durchschaubare Fluchtgeschehen vereinfacht. Der Preis: es gibt nur schwarz, weiss und schwarzweiss. Und es wird gerechnet wie bei einer mathematischen Gleichung. Die Beweggründe für Veränderung sind jedoch alles andere als naturwissenschaftlich: was zählt, sind Zuhören, Offenheit, Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe. Nur wer sie auf der Rechnung hat, kommt weiter! Dies ist die zutiefst humanitäre Botschaft einer Bildergeschichte, die zum Deuten und damit zum Nachdenken einlädt. Denn Punkte sind universelle Bildsymbole, die mit minimalen Mitteln optisch variiert werden können und dies, aber auch jenes verkörpern. Wer hier schwarz, wer weiss ist, lässt sich nicht direkt ableiten. Sicher ist nur, es geht allgemein – nicht nur wirtschaftlich – um reich sein und arm sein. Zudem lassen sich viele Punkte zu Konturen von Objekten fügen, die auf bildhafte Bedeutungen verweisen. Punkte, das wird hier jedem deutlich, sind die neue universelle Weltsprache. Jeder versteht sie, ob Analphabet oder Kleinkind, Alt oder Jung, arm oder reich, egal woher.
Ina Nefzer

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TitelPunkte
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Autor:inGiancarlo Macri und Carolina Zanotti
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GenreFiction
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VerlagGabriel
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Erscheinungsdatum2017
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Seiten32
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Illustrator:inCarolina Zanotti
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Übersetzer:inSalah Naoura
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