Das sternenlose Meer
Wenn Erin Morgenstern nach acht langen Jahren endlich wieder eine ihrer magischen Geschichten webt, muss Nachwuchsredaktorin Jessica Nirkko nach gefühlt ebensolanger Zeit wieder zur Tastatur greifen. Ein Buchtipp zum Abschalten und Träumen.
Unter unserer Welt gibt es eine andere. Unterirdisch zwar, aber dennoch keine dunkle, tropfende Höhle. Reich beschmückte Hallen, Zimmer und Säle finden sich hier, beleuchtet von warmen Lampen und Kerzenlicht, in Samt und Seide gehüllt, voller gemütlicher Alkoven und geheimnisvoller Seitenkorridore. Und diese ganze Welt beherbergt Geschichten – in Büchern gebunden, auf Wände bemalt, in Kristalle geritzt, in Regentropfen geformt, in Spinnennetze gewebt. Bücher tummeln sich in dieser subterranen Traumbibliothek nebst eigenartigen Skulpturen und Kunststücken, und doch ist alles mehr als eine Bibliothek oder ein Museum – alles zusammen formt sich zu einer Stadt, einem Hafen am Ufer des goldenen, sternenlosen Meeres.
In diese Welt, die unter unseren liegt, führen normale Türen: in Hinterzimmern versteckt, in Ruinen verschüttet, freistehend auf Feldern, auf Wände gemalt, in Bäume geritzt, in Felswänden gemeisselt. Diejenigen Menschen, die sich nach mehr sehnen, als ihnen unsere Welt bieten kann, erspähen diese Türen. So auch Zachary Ezra Rawlins, Sohn einer Wahrsagerin und einzelgängerischer Doktorand. Er findet eine dieser Türen als er gerade mal elf Jahre alt ist. Eine kunstvolle trompe l’œil, gemalt auf eine Mauer auf seinem Schulweg. Doch er öffnet sie nicht. Am nächsten Tag ist die Tür verschwunden und die Wand frisch bestrichen.
Dieser verlorene Moment – wieso hatte er nicht wenigstens versucht, die gemalte Tür zu öffnen? – beschäftigt Zachary nicht oft, bis zu dem Tag, an dem er in der Uni-Bibliothek auf ein sonderliches Buch stösst. Dieses trägt dieselben Symbolbilder wie damals die Türe – ein Schlüssel, eine Biene, ein Schwert. Und nicht nur das: Zachary kommt selbst in diesem Buch vor. Bis zu seiner Kleidung hin wird sein 11-jähriges Selbst bis ins kleinste Detail beschrieben.
Moderner Mythos
So beginnt eine Spurensuche nach der Identität dieses Buches und der scheinbar verlorenen und vergessenen Welt. Anders als viele moderne Fantasy-Autoren, deren Welten oft auf existierenden Mythologien oder historischen Ereignisse basieren, gelingt es Erin Morgenstern mit dem sternenlosen Meer, einen eigenen, modernen Mythos zu kreieren. Dieser dreht sich um Zeit und Schicksal, welche sich ineinander verlieben, macht aber auch Geschichten zu eigenständigen Hauptakteuren. Das Buch ist durchzogen von Büchern-im-Buch, welche erst gen Ende Sinn ergeben, wie sie mit der Hauptgeschichte verbunden sind.
Wie auch «Der Nachtzirkus», so ist auch «Das sternenlose Meer» reich ausgemalt und sinnträchtig, mit einem Fokus auf Dekadenz und luxuriösen Beschreibungen von Kostümen und Kleidung, Lichtstimmungen und Gerüchen, Zimmern und Umgebungen wie auch das Essen und Trinken. Erin Morgenstern vermittelt alles in ihrer Art, der es gelingt, Sehnsucht nach der so erschaffenen Welt zu wecken. In diesem Fall wollte ich nichts mehr, als mich im Hafen in eine weiche Decke zu kuscheln, mit Honig gesüsste heisse Schokolade zu schlürfen und den ganzen Tag zu lesen.
Während im «Nachtzirkus» jedoch ein relativ starres Farbschema herrscht, strotzt das «sternenlose Meer» vor Farben. Und doch fühlt sich die erschaffene Atmosphäre winterlich an. Ich hatte das Glück, die Autorin bei einer Buchlesung in Edinburgh zu erleben. Erin Morgenstern erzählte dort, dass nach dem herbstlichen Gefühl des «Nachtzirkuses» ein nun winterliches Buch an der Reihe war. Sie fokussierte sich zudem auf den Unterschied von Büchern von Computerspielen – was kann in einem Spiel mitgegeben werden, was in einem Buch? Kann man diese Erzählweisen vereinen? Im Roman spielen daher – verwoben mit der Schicksalsmythologie – Entscheidungen eine zentrale Rolle: öffne ich diese Türe oder nicht?
Meer der Geschichten
Je nach Vorliebe der Leserin/des Lesers, können die fortwährend eingeschobenen Kurzgeschichten und Fragmente der verschiedenen Binnenerzählungen mit offenen Armen oder mit Ungeduld aufgenommen werden. Es sind zwar diese Erzählungen/Geschichten, welche die Fülle, die Stimmung und die Magie der Welt des sternenlosen Meers begründen. Doch während sie sich zu Beginn dank ihrer Kürze als ‚Bettmümpfeli‘ vor dem Schlafengehen eignen, könnten sie gegen Ende auch zur Irritation führen, wenn sie die Hauptgeschichte scheinbar unterbrechen. Kombiniert mit der neuen, nicht vollkommen erklärten Mythologie, scheinen die Fragmente tatsächlich mitunter verwirrend. Es empfiehlt sich daher, einfach in das Meer der Geschichten abzutauchen und sich auf die berauschende Welt unter unseren Füssen einzulassen.
Kinder- und Jugendredaktion
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TitelDas sternenlose Meer
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Autor:inErin Morgenstern
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VerlagBlessing
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Erscheinungsdatum2020
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Seiten640 Seiten
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Übersetzer:inKarin Will
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Bewertung