Geschichte für einen Augenblick
Ein Roman, der mit Fakt und Fiktion ebenso spielt, wie mit der Zeit und der Vorstellung davon. "Geschichte für einen Augenblick" von Ruth Ozekis ist eindrücklich, bewegend und philosophisch, findet Peter Rinnerthaler. Sein Tipp.
„Die Autorin ist nicht die Erzählerin." Jener irritierende Satz von literaturvermittelnden DeutschlehrerInnen darf im Fall Ruth Ozekis von kritischen SchülerInnen zu Recht hinterfragt werden.
Das Ausmass an Wachsamkeit um biografische Parallelen bei der Lektüre von „Geschichte für einen Augenblick" zu entdecken, muss allerdings nicht ausgesprochen hoch sein: Eine von zwei Romanhauptfiguren ist Schriftstellerin, lebt in New York sowie auf einer kleinen kanadischen Insel und heisst ... Dreimal darf die Musterschülerin raten. Richtig. Ruth.
All das erfährt man über Ruth Ozeki bereits im Text des Schutzumschlags. Das Spiel mit der Fiktion der Erzählung endet allerdings nicht auf dieser oberflächlichen Ebene.
Einerseits werden zeitgeschichtliche Momente im Text explizit zeitlich verschoben dargestellt, um in Verbindung mit dem Romantitel „Geschichte für einen Augenblick" kunstvoll auf den ebenso verstörenden Leitsatz des Geschichtsunterrichts zu verweisen: „Auch Geschichtsschreibung ist Fiktion".
Denn als Ruth im Tagebuch der jungen Nao aus Japan, das sie am Strand der kanadischen Westküste entdeckt, zu lesen beginnt, wird die Zeit relativ. Abwechselnd erfährt man vom Vorhaben der gemobbten Problemschülerin das eigene Leben zu beenden und dem irrationalen Verlangen der Schriftstellerin Hilfe zu leisten. Ein aussichtsloses Verlangen, da die Tagebuchnotizen eine jahrelange Reise im Trift über den Pazifik hinter sich haben. Doch Ruth liest im Jetzt, liest in Etappen, recherchiert, diskutiert mit ihrem Mann sowie schrulligen Insulanern, verliert sich mehr und mehr in der Geschichte der jungen Japanerin und verliert auch den Bezug zur zeitlichen Realität: der Titel des Tagebuch-Blogs „The Future is Nao" wird zur Metapher für Ruths Bewusstsein.
Andererseits trägt die Wahl der Erzählform zur ambivalenten Situation dieser Beziehung bei, die sich auf den Leser und die Leserin überträgt. Durch die gewählte Adressierung Naos fühlt man sich als TagebuchleserIn direkt angesprochen:
„Du machst dir Gedanken über mich. Ich mache mir Gedanken über dich. Wer bist du, und was machst du gerade?"
Zur gleichen Zeit identifiziert man sich mit der personal erzählten Ruth, die die Erzählung durch ihre Recherchen verbreitert und vorantreibt.
Neben diesen ergänzenden Informationen der Schriftstellerin führen Naos Schilderungen und Überlegungen im Tagebuch zum Wissenszuwachs über japanische Geschichte und Jugend- und Populärkultur. Während zahlreiche japanische Begriffe in Fussnoten erläutert werden, findet man im Anhang ausführlichere Erklärungen zu „Zen-Augenblicken", „Tempelnamen" oder „Schrödingers Katze".
In besonders eindrücklicher Weise wird die Vermittlung der Sein-Zeit-Philosophie gestaltet. Eine japanische Form des Verständnisses von Zeit und Geschichte wird von Nao explizit wiedergegeben:
„Ich heiße Nao, und ich bin Sein-Zeit, ich bin Sein, und ich bin Zeit. [...] Jeder, der in der Zeit lebt, ist Sein-Zeit, du, ich und jeder andere von uns, den es gibt, jemals gab oder geben wird."
Implizit wird ein Gefühl für diese philosophische Auffassung durch die einfühlsame Zeichnung der Beziehung zwischen Nao und ihrer Urgrossmutter vermittelt, die den einzigen Lichtblick im Leben der Jugendlichen darstellt. Sie ist Nonne, Schriftstellerin, Anarchistin, Feministin und Naos grosses Vorbild. Durch die Aufarbeitung der urgrossmütterlichen Biografie, der Reflexion im Tagebuch und der aufkeimenden Hoffnung auf ein besseres Leben entsteht schliesslich Sein-Zeit, die sich aus der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft Naos speist.
Fachredaktion
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TitelGeschichte für einen Augenblick
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Autor:inRuth Ozeki
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VerlagS. Fischer
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Erscheinungsdatum2014
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Seiten560
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Übersetzer:inTobias Schnettler
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Bewertung