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Junge ohne Namen

| Silke Rabus | Jugendbuch

Die klug aufgebaute und so berührend wie schonungslos erzählte Geschichte rund um den zehnjährigen I steht stellvertretend für die vielen wahren Schicksale von unbegleiteten Flüchtlingskindern in der ganzen Welt. Ein Tipp von Silke Rabus.

„Heute ist der Schlamm trocken und verkrustet und weht in meine Augen. Heute habe ich Geburtstag.“ Die bewegende Ich-Erzählung des unbegleiteten Flüchtlingskindes I beginnt prominent: Die ersten Zeilen sind in krakeliger Schreibschrift auf das Cover gedruckt, von dort zieht sich der Text – nun in Druckschrift – über das Vorsatzpapier in das Innere des Buches hinein. „Ich werde zehn. Ich bin zehn. Bestimmt“, glaubt I mehr, als dass er es weiss. Denn wer ist man überhaupt noch, wenn man weder Papiere noch Geld besitzt? Wie definiert sich eine Biografie, wenn Playliste, Handy und Fotos ebenso verlorengehen wie Heimat, Familie und Erinnerungen?

„Ich bin Kind I“
„Ich werde die Geschichte meines jetzigen Lebens erzählen, hier im Lager und angefangen mit dem heutigen Tag“, entscheidet sich I dafür, die Vergangenheit erst einmal ruhen zu lassen. Das Lagerleben ist herausfordernd genug: Hunger, Armut, Gestank und Dreck prägen den Alltag, dazu plagen Langeweile, Einsamkeit, Gewalt und Resignation. Bei aller Tristesse gibt es aber auch Hoffnung, denn I ist nicht allein. Neben solidarischen Helfern wie der lebenslustigen Charity und ihrem Sohn C leben in dem nicht eindeutig verorteten Lager weitere unbegleitete Kinder. „So nennen sie uns – Kind L, Kind E usw. Weil wir nicht nachweisen können, wie wir richtig heißen. Ich bin Kind I“, erzählt der Protagonist, und es ist wohl kein Zufall, dass I aus dem Englischen übersetzt „ich“ heisst. Gemeinsam finden alle so etwas wie ein kleines Glück. Und die Zauberfrage, mit der I die anderen Kinder der bedrückenden Realität entreisst, klingt letztendlich ganz einfach: „Will jemand spielen?“

„Golden, für V“
Zentrales Symbol für diesen Perspektivwechsel ist eine kleine Figur aus Plastik, die I für V vergoldet und ihr schenkt. „V behauptet, ihre Lieblingsfarbe sei die Farbe des Schlamms. Meine Mama meinte immer, alles habe seine schönen Seiten“, setzt I dagegen, denn er weiss: Im Sonnenschein leuchtet Schlamm wie Gold – so wie die Goldlackveredelung auf dem Cover aus der grauen Steifbroschur heraussticht. Überhaupt entfaltet sich das klug komponierte Buch auf mehreren Ebenen, erzählt es doch anhand der Biografie von I stellvertretend das Schicksal anderer unbegleiteter Flüchtlingskinder. Dass die verknappten Kapitelüberschriften „Ich“, „Verlust“, „Essen“, „Ortlos“, „Chaos“ und „Leben“ zugleich die Anfangsbuchstaben der auftretenden Kinder sind, fügt sich damit nahtlos ins Konzept des Buches, dessen Botschaft klar ist: „Wir möchten nur dazugehören. Wir möchten nicht hungern. Wir möchten einfach nur lachen und spielen.“

 


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Silke Rabus

Silke Rabus ist Print- und Online-Redakteurin, Biografin, Lektorin, Journalistin, Kritikerin und Literaturvermittlerin. 
  • Titel
    Junge ohne Namen
  • Autor:in
    Steve Tasane
  • Genre
    Fiction
  • Verlag
    Fischer Sauerländer
  • Erscheinungsdatum
    2019
  • Seiten
    144
  • Übersetzer:in
    Henning Ahrens
  • Bewertung