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Lieber Daddy Long Legs & Lieber Feind

| Andrea Kromoser | Jugendbuch

Briefeschreiben mag ja aus der Mode sein, das Hoffen auf eine Antwort ist es jedoch nicht. Jean Websters Briefromane faszinieren heute genauso, wie schon vor über hundert Jahren. Die Doppelrezension von Andrea Kromoser.

Wird er irgendwann antworten? Die junge Waise Judy Abbott bekommt von einem ihr völlig unbekannten Förderer die Chance auf ein Studium. Einzige verlangte Gegenleistung sind die regelmässigen Briefe an den Gönner, der jedoch seinerseits niemals zurück schreibt. So denkt sich Judy, während sie wortgewandt von ihrem Studium, dem Studentenleben, ihren Kolleginnen sowie deren gemeinsamer Freizeitgestaltung berichtet, Nachricht für Nachricht einen Briefleser zurecht, den sie den Kosenamen Daddy-Long-Legs gibt. „Lieber Daddy-Long-Legs, ich liebe die Universität, und ich liebe Sie, weil Sie mich studieren lassen – ich bin sehr, sehr glücklich und im Augenblick so aufgeregt, dass ich kaum schlafen kann. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie gross der Unterschied zum Waisenhaus ist.“
Die Spannung des erstmals 1912 erschienenen Briefromans liegt in der Ungewissheit bzw. an der einseitigen Erzählperspektive: Wir kennen konsequenter Weise ausschliesslich Judys Sicht auf die Dinge und hoffen gemeinsam mit ihr auf einen Antwortbrief, auf irgendeine Reaktion abseits der finanziellen Zuwendungen und freuen uns ebenso sehr wie sie, als eines Tages Blumengrüsse des Unbekannten ankommen.

Frauenleben miterleben
Ja, irgendwann wird er dann doch antworten (und ein völlig anderer sein, als der, den Judy sich erdacht hatte)! Doch bis dahin unterhält Judy den gesamten ersten Band hindurch, indem sie sich niemals ein Blatt vor den Mund nimmt, frech und direkt aus dem Bauch heraus formuliert. All ihre alltäglichen Sorgen, Freuden und Beobachtungen bekommen durch ihre sich rasch entfaltende Bildung zunehmend mehr Gewicht. Mit jedem Semester formuliert die Briefeschreiberin wortgewandter, informierter und reflektierter, jedoch ganz bestimmt nicht weniger gewieft. („Oh, Daddy, ich sage Ihnen, wenn wir Frauen erst unsere vollen Rechte haben, werden die Männer auf der Hut sein müssen, wenn sie die ihren behalten wollen.“) Am Ende wird sie ihr Studium beenden und in ein vielversprechendes Erwachsenenleben aufbrechen. Und ja, ihr geheimnisvoller Unterstützer wird darin weiterhin eine wichtige Rolle einnehmen, soviel sei verraten.

Im zweiten Band „Lieber Feind“ wechselt Jean Webster ihre Protagonistin, jedoch nicht die Erzählstrategie des Briefromas. Die Schreibende ist diesmal Judys beste Freundin aus Studienzeiten, die als Leiterin des Waisenheimes, in dem Judy ihre Kindheit verbracht hatte, vor grossen Herausforderungen steht. Judy Abbott bekommt in „Liebster Feind“ eine eher kleine, jedoch sehr wesentliche Nebenrolle – wir bleiben also gut über den weiteren Verlauf ihres Lebens informiert.

Über 100 Jahre jung
Der Königskinder-Verlag hat uns mit diesen beiden Bänden Jean Websters (in der Übersetzung von Ingo Herzke) grosses historisches Lesevergnügen beschert. Die erstmals 1912 sowie 1915 erschienen Briefromane lesen sich kurzweilig, ihr witzig-frecher Ton überzeugt ebenso wie die Nähe zu den beiden Protagonistinnen. Hier wird authentisch sowie geradeheraus aus der Realität zweier Frauen kurz nach der Jahrhundertwende erzählt. Jedoch nicht ohne dabei auch ein wohlig-emotionales Schwelgen zu gestatten. – Lektüre fürs Hirn und fürs Herz also! Und für gemütliche Herbstregentage auf der Couch.


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Andrea Kromoser

Andrea Kromoser schreibt für Leporello über Bilderbücher, Kinderbücher und Jugendbücher.Andrea ist gelernte Buchhändlerin, sie hat Germanistik in Wien studiert und mittlerweile ihr Angebot familien...
  • Titel
    Lieber Daddy Long Legs & Lieber Feind
  • Autor:in
    Jean Webster
  • Genre
    Fiction
  • Verlag
    Königskinder
  • Erscheinungsdatum
    2017
  • Übersetzer:in
    Ingo Herzke
  • Bewertung