Wir beide wussten, es war was passiert
Billy taucht unter, verlässt die Schule, sein Zuhause, den gewalttätigen Vater. Ohne grosse Dramatik, ebenso vorsichtig wie direkt erzählt Steve Herrick von einem Jugendlichen, der einsamen aber mutigen Schrittes seinen Weg geht. Der Jugendbuch-Tipp von Andrea Kromoser.
BILLY
"Ich bin nicht stolz.
Ich bin sechzehn
und werde bald obdachlos sein."
In einem verlassenen Waggon auf dem Güterbahnhof findet der sechzehnjährige Billy, auf der Flucht vor seinem gewalttätigen Vater, eine Bleibe. Im Waggon nebenan wohnt Old Bill, ein Obdachloser, wie es auf den ersten Blick scheint. Doch Old Bill ist ein einsamer Gefallener, ein Trinker. Einer, dessen familiäres Schicksal zu hart war, um an sein altes Leben anknüpfen zu können. Zwei Menschen ohne Perspektive teilen sich ein Stück „Pennerwelt“.
OLD BILL
"Jeden Tag dieser Woche
hat mich der Scheissjunge
um halb acht Uhr morgens
mit Conflakes und Milch
(…) geweckt."
Steven Herricks Text ist voll poetischer Symbolik. Schon der Blick auf die Buchseiten suggeriert einen Versroman: Sätze werden unterbrochen, dehnen sich über Zeilen. Dabei scheint die Form des Texts als Schablone zu dienen – die Geschichte ordnet sich der lyrischen Form unter und lädt zum langsam-konzentrierten Lesen ein.
Während der Autor dem in seiner australischen Heimat verorteten Text einerseits eine bestürzende Grundstimmung verleiht, lässt er ihn andererseits in vielen Momenten tröstend erscheinen. Ohne Dinge oder Ereignisse schönzureden erzählt er in prägnanten Formulierungen, was die Figuren im Jetzt empfinden, erleben, denken. Innenperspektiven werden ausverhandelt, die Darstellung einzelner Augenblicke rückt in den Mittelpunkt.
CAITLIN
"Ich bin also ganz normal,
eine normale Siebzehnjährige.
Ich denke an Jungs,
aber eher im Allgemeinen,
nicht an irgendwen, den ich kenne (…)."
Ausser Billy und Old Bill ist da noch Caitlin, die bei McDonalds jobbt, obwohl ihre Eltern wohlhabend sind. Das mit den Jungs im Allgemeinen, stimmt allerdings nur so lange, bis sie Billy dabei beobachtet, wie er heimlich die Essensreste anderer Leute isst. Ab diesem Augenblick denkt sie nur noch an diesen einen Jungen, pausenlos.
Neue Perspektiven
Die drei, jeweils aus der Ich-Perspektive erzählenden Figuren, sind sich zu Beginn der Geschichte nie zuvor begegnet und doch kann am Ende keines der drei Leben ohne das jeweils andere auskommen. – Neben der romantischen Liebe zwischen den beiden unterschiedlichen Teenagern umkreist der Text die grossen Themen Freundschaft und Zusammenhalt. Anstatt näher auf Billys gewalttätigen Vater einzugehen, stellt Steven Herrick seinem Protagonisten eine neue Vaterfigur zur Seite. Old Bill gibt neuen Perspektiven Raum – auch wegen Billy, der ihn, anstatt auf ein Bier, auf Ingwerlimonade einlädt.
Fachredaktion
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TitelWir beide wussten, es war was passiert
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Autor:inSteven Herrick
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VerlagThienemann-Esslinger Verlag
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Erscheinungsdatum2016
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Seiten208
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Übersetzer:inUwe-Michael Gutzschhahn
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Bewertung