Jina und Kor – Die verlorenen Welten
Das Debüt „Jina und Kor“ von Anna Kornicker ist gefühlvoll, intensiv und märchenhaft. Die Baslerin erzählt die Geschichte zweier Kinder, die ihre Eltern retten. Doch zuvor müssen sie durch die dunkelsten aller Welten gehen – und das Nichts ertragen. Der Kinderbuch-Tipp von Carol Rosa.
Jina und Kor leben in einem beschaulichen Bergdorf, bis eines Tages seltsame Dinge passieren. Die Menschen im Dorf verwandeln sich in Untiere. Kors Vater, vor Kurzem noch stark und lustig, mutiert urplötzlich zu einer gigantischen Gottesanbeterin, und Jinas Bruder zu einer fiesen Hundebestie.
Zusammen mit ihren neuen Freunden, Tiger, Hirsch und Murmeltier, machen sich Jina und Kor auf, ihre Welt zu retten. Ausgerüstet mit Wasser- und Feuerkleidern, einem Zauberstab und selbstgeschnitzten Helfer-Zwergen durchwaten sie gallertartige Labyrinthe, rasen auf fliegenden Teppichen durch die Lüfte und spazieren auf watteweichen Regenbogen. Kurz: Sie erleben alles, was ein Kinderherz beim Lesen begehrt.
Zwischen Traum und Wachsein
Die Autorin Anna Kornicker zieht die Lesenden in ihre originellen Zwischenwelten und erzählt von Welten, wie wir sie eigentlich alle kennen – Welten, zwischen Traum und Realität, zwischen Gut und Böse. So scheinen selbst in der dunkelsten aller Welt, im Reiche des dunklen Lords Ochmond, Lichtblicke auf. Und selbst in der hellen Welt der Königin Kresna ist nicht alles gut und schön, wie es zuerst scheint.
Kornicker erzählt wortgewandt, verspielt und fantasiereich, doch ihr Kinderroman wird letztlich erst einzigartig durch die geheimnisvollen und ausdrucksstarken Illustrationen von Andrea Gruber. Zudem spricht die Autorin im Subtext aktuell drängende Themen an: Eltern, die vor lauter Kleinkram-Alltag das Wohl ihrer Kinder aus den Augen verlieren. Sie kritisiert aber auch unsere egoistische Schein-Welt, das unbedingte Streben nach Macht und Schönheit und beklagt fehlenden Mut, Courage und Mitgefühl.
Kor rettet Raffel
Anna Kornicker hat von Anfang an ihre eigenen Kinder in den Schreibprozess miteinbezogen und deren kritischen Anmerkungen in die Geschichte aufgenommen. Dank ihrer kleinen Tochter hat nun der heldenhafte Tiger in der Geschichte, der an den gütigen Löwen aus der Narnia-Trilogie erinnert, ein glänzend oranges Fell mit schwarzen Streifen. Und weitere kleine Testleserinnen und Testleser konnten die Autorin davon überzeugen, den Vogel Raffel, den Diener des dunklen Lords, der den Menschen ihre Gefühle stiehlt, am Schluss nochmals auftreten zu lassen, nicht mehr unterdrückt und todtraurig, sondern befreit und glücklich.
Ebenso wie Kor, dessen grösster Wunsch in Erfüllung geht: Er kann fliegen. Doch erst muss er mutig genug sein, einen Schritt in den luftleeren Raum zu wagen – ohne Angst davor zu haben abzustürzen.
Carol Rosa
