Singende Knochen
Der australische Künstler Shaun Tan bringt Märchenfiguren in dreidimensionale Formen. Seine Skulpturen zu Texten der Brüder Grimm ziehen sofort in ihren Bann und machen Lust darauf, wieder einmal durch das eigene Märchenbuch zu blättern. Der Tipp von Andrea Kromoser.
Oftmals ist die Erinnerung an Märchenfiguren geprägt von verkitschten sowie überladenen Bearbeitungen. Dass Märchen auch von menschlichen Abgründen erzählen, gerät dabei manches Mal in den Hintergrund. Diese Seite der von den Brüdern Grimm gesammelten Geschichten und niedergeschriebenen Texte erfährt mit dem Fotobildband „Singende Knochen“ eine neue Auseinandersetzung. Shaun Tan nimmt sich ihrer ursprünglichen, dunklen und geheimnisvollen Seite an, gibt bekannten sowie weniger vertrauten Märchenfiguren ihre Grundzüge zurück.
Schattenspiel
Für seinen Band „Singende Knochen“ hat der australische Künstler Textausschnitte gewählt, die er seinen 75 Skulpturen zur Seite stellt. Für die deutsche Ausgabe der Sammlung wurden der Ausgabe letzter Hand der „Kinder- und Hausmärchen“ entsprechende Abschnitte entnommen. Inspiriert ist Shaun Tans Arbeit wiederum vom Engländer Philip Pullman, dessen Neuerzählung der Grimmschen Märchen Shaun Tan ebenfalls mit Fotografien von Skulpturen illustrierte. Neben den unterschiedlichen kulturellen Perspektiven, die sich durch dieses Wechselspiel ergeben, faszinieren vor allem die grandiose Umsetzung, Darstellung und Inszenierung der Skulpturen. Shaun Tan hebt einzelne Märchenfiguren und -szenen hervor, positioniert sie, spielt gezielt mit Licht und Schatten und macht so auf zweidimensionalen Buchseiten das Dreidimensionale seiner Objekte sichtbar. Rotkäppchen beispielsweise steht abwartend auf einer dunklen Fläche, die gleichzeitig Waldboden als auch Wolfsrücken sein könnte. Rapunzel ist Turm und Mensch zu gleich. Bei beiden verschmilzt die Angst bzw. Verzweiflung der Figur mit der haptischen Darstellungsweise in einer beeindruckenden Momentaufnahme.
Handwerk
In seinem Vorwort zu „Singende Knochen“ spricht Philip Pullman von der „ungeschminkt physischen Beschaffenheit“ der Skulpturen und hebt dabei das Analoge hervor: „Hier ist alles von Hand aus realen Stoffen gefertigt. Wie sehen die Spuren von Daumen und Fingernägeln. Das Licht, das auf den Figuren spielt, stammt von einer echten Lampe.“ Jene Echtheit spricht aus den Bildern. Sie ist ein wesentliches Argument für deren starke Wirkkraft und massgeblich dafür verantwortlich, dass beim Betrachten ein Gefühl von unmittelbarer Nähe zu einer lange bewahrten Erzähltradition bleibt.
Andrea Kromoser
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TitelSingende Knochen
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GenreFiction
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VerlagAladin Verlag
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Erscheinungsdatum2016
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Seiten176
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Illustrator:inShaun Tan
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Übersetzer:inMartina Tichy
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Bewertung